Laut ZDF Heute tagte am 08.02.2020 von 13:00 bis 15:00 Uhr der Koalitionsausschuss im Bundeskanzleramt. In dem um 15:00 Uhr öffentlich bekannt gemachten “Ergebnis Koalitionsausschuss“ heißt es: “Die Koalitionspartner erwarten, daß der gewählte Ministerpräsident Thomas Kemmerich heute … von seinem Amt zurücktritt.“
Um 15:07 Uhr erklärte Kemmerich (FDP): „Hiermit erkläre ich meinen Rücktritt als Ministerpräsident des Freistaats Thüringen mit sofortiger Wirkung.“
Die zeitliche Abfolge der Ereignisse läßt die Vermutung zu, daß ein kausaler Zusammenhang besteht zwischen der Forderung des Koalitionsausschusses an Kemmerich und seinem Rücktritt, der nur sieben Minuten später erfolgte.
Der Koalitionsausschuss ist ein mit parteipolitisch sowie exekutiv führenden Personen bestücktes Gremium der Regierungskoalition der Koalitionspartner CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag während der 19. Legislaturperiode. Der Ausschuss ist ein informelles Entscheidungsorgan mit umfassenden Kompetenzen und dient der Bundesregierung als inoffizielles Entscheidungsgremium ohne im Grundgesetz definiert zu sein.
Der Ausschuss steuert die Arbeit der Bundesregierung und der CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag ohne den Abgeordneten des Bundestages verantwortlich zu sein. Die Frage, ob die brisante vom Koalitionsausschuss in Berlin getroffene Entscheidung, Kemmerich in Erfurt dazu aufzufordern, von seinem Amte als Ministerpräsident des Freistaats Thüringen zurückzutreten, demokratisch und verfassungsrechtlich legal war, erhitzt die Gemüter.
Der langjährige Geheimdienstchef Hans-Georg Maaßen ist empört: „Nein, liebe Koalitionäre in Berlin, es ist weder Ihre rechtliche Zuständigkeit noch Ihre Aufgabe, Neuwahlen in einem deutschen Land zu fordern.“
Der Rechtsanwalt Jörn H. Linnertz sieht die Sache hingegen gelassener: „Verfassungsrechtlich gibt es das Gremium ja nicht. Ganz so aufregend ist es also nicht.“
Nicht ganz unerheblich für die politische und verfassungsrechtliche Einordnung des Vorgangs ist der Tagungsort des Koalitionsausschusses: das Bundeskanzleramt. Ein Regierungssprecher des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung erklärte hierzu: „Der Ort der Zusammenkunft ergibt sich aus der Aufgabe des Koalitionsausschusses: das ist die Koordination und Planung der gemeinsamen Arbeit in der Bundesregierung.“
Wenn man vom Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung allerdings Näheres erfahren möchte zur „Koordination und Planung der gemeinsamen Arbeit in der Bundesregierung“, entgegnet derselbe Regierungssprecher: „Für Fragen nach der Organisation des Koalitionsausschusses möchte ich an die Pressestellen der die Koalition tragenden Parteien verweisen.“
Allein anhand dieser Verlautbarungen des Regierungssprechers wird das verfassungsrechtliche Dilemma des Koalitionsausschusses deutlich. Der Ausschuss tagt im Bundeskanzleramt und koordiniert und plant die gemeinsame Arbeit in der Bundesregierung, taucht aber im Grundgesetz nicht auf und diktiert einem souveränen Land, daß sein Regierungschef sofort von seinem Amte zurückzutreten habe.
Ein verfassungsrechtlich inexistentes Gremiumu, ausgestattet mit umfassenden Kompetenzen, verletzt das Grundgesetz und die Verfassung des Freistaats Thüringen und bestimmt, was Recht und Ordnung ist in der Erfurter Republik.
Nur weshalb beugte sich der liberale Kemmerich überhaupt der Forderung des Ausschusses – dem die FDP nicht einmal angehört – mit sofortiger Wirkung zurückzutreten? „Aus der FDP ist zu hören, Merkel habe diesen Schritt mit der Drohung erzwungen, ansonsten sämtliche Landesregierungen beenden zu wollen, an denen CDU und Liberale beteiligt seien“, heißt es in der Welt am Sonntag Nr. 6/2020 vom 09.02.2020 auf Seite 3.
Sollte diese Darstellung zutreffend sein, könnte man sich durchaus über die Tatsache wundern, daß man verfassungsrechtlich demokratische Prinzipien allein wegen eines Empörungsaufschreies des politischen Establishments verwerflich findet, wenn bestimmte politische Konstellationen nicht mehr so recht in das eigene ideelle Konzept passen. Man muss sich also schnellst möglichst in der neuen Erfurter Republik darauf verständigen, was man denn genau unter Demokratie verstehen möchte: Die verfassungsmäßige Ordnung oder das Diktat der Kanzlerin bzw. ihres Koalitionsausschusses?
Der Verfassungsschutz sollte die Ereignisse in der Erfurter Republik genau verfolgen. Heute bezeichnete der frühere Ministerpräsident Bodo Ramelow die mutmaßliche Absprache zwischen den Parteien AfD, CDU und FDP vor dem dritten Wahlgang in Erfurt als „Putsch“. Ramelows politischer Gegner sieht die jüngsten Vorgänge in Thüringen dagegen als „Putsch“ gegen den Souverän vonseiten der Machthabenden.
Die verfassungstheoretisch legitimierten Institutionen müssen wachsam sein, daß die Erfurter Republik im verfassungspraktischen und politisch-kulturellen Sinne nicht zu einer Bananenrepublik wird.
(Die Pressesprecher der im Koalitionsausschuss vertretenen Parteien CDU und SPD reagierten bis Redaktionsschluss nicht auf Presseanfragen zu der Sache.)
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