Wie deutsche Medien einen „Koranverteiler“ als „verurteilten IS-Mann“ darstellen
von Martin Lejeune
Bilal G., ein 31-jähriger Kurde aus dem Rhein-Main-Gebiet, verteilte in der Öffentlichkeit Koranübersetzungen an Bürger. Das brachte ihn in den Fokus der Medien, die ihn von Jahr zu Jahr mit immer negativer konnotierten Frames bedachten.
Tatsächlich wurde Bilal G. am 07.12.2018 von der 27. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main wegen mutmaßlicher Beihilfe zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, Az. 5/27 KLs 6120 Js 243399/13 (18/16).
Dieses Urteil ist nicht rechtskräftig. Bilal G. hat das Urteil mit der Revision angefochten. Zugleich hat er gegen die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft Beschwerde am Oberlandesgericht Frankfurt am Main eingelegt. Bilal G. war am 02.03.2018 festgenommen worden und befand sich bis zum 09.01.2020 in Untersuchungshaft. Das sind fast zwei Jahre Untersuchungshaft währenddessen für den Beschuldigten in der Regel schärfere Haftbedingungen bestehen als im Regelvollzug.
Mit seinem unanfechtbaren Beschluss vom 09.01.2020 hob der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main den Haftbefehl gegen Bilal G. auf und ordnete die Entlassung von Bilal G. aus der Untersuchungshaft an, Az. 5 Ws 1/20.
Anläßlich der Aufhebung des Haftbefehls verleumdeten die Deutsche Presseagentur (dpa), Süddeutsche Zeitung, Hürriyet, Gießener Anzeiger, Der Spiegel und Focus Bilal G. als „verurteilten IS-Anhänger“. Die Hessenschau des Hessischen Rundfunks, der sich aus Gebühren des Volkes finanziert, macht in ihrer Schlagzeile aus Bilal G. sogar einen „verurteilten IS-Mann“.
Weder der Beschluss des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 09.01.2020, der den Haftbefehl gegen Bilal G. aufhob, noch das Urteil der 27. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 07.12.2018 behaupten, Bilal G. sei „IS-Anhänger“ oder „IS-Mann“. IS ist die gängige Abkürzung für die Vereinigung sogenannter Islamischer Staat alias Islamischer Staat im Irak (ad-Dawla al-Islamiya fil-Iraq) alias Islamischer Staat im Irak und in Groß-Syrien (ad-Dawla al-Islamiya fil-Iraq wash-Sham).
Die Richterin am Oberlandesgericht Dr. Gundula Fehns-Böer sagte nach Bekanntwerden des Beschlusses des Staatsschutzsenats im Auftrag des Präsidenten des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main über den Tatvorwurf gegen Bilal G.: „Der Tatvorwurf bezieht sich nicht auf eine IS-Mitgliedschaft.“
Indem Deutsche Presseagentur (dpa), Süddeutsche Zeitung, Hürriyet, Gießener Anzeiger, Der Spiegel, Focus und die Hessenschau des Hessischen Rundfunks Bilal G. „IS-Anhänger“ bzw. „IS-Mann“ nennen, verstoßen sie gegen die presserechtliche Pflicht, zur Veröffentlichung bestimmte Informationen mit der gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.
Zudem wird ein nicht rechtskräftig verurteilter Beschuldigter in den Überschriften der Beiträge von Deutscher Presseagentur (dpa), Süddeutscher Zeitung, Hürriyet, Gießener Anzeiger, Der Spiegel, Focus und der Hessenschau des Hessischen Rundfunks als „verurteilt“ gebrandmarkt, obwohl für einen nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten die Unschuldsvermutung zu gelten hat.
Artikel 6 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention enthält die Gewährleistung der strafrechtlichen Unschuldsvermutung: Jedermann hat solange als unschuldig zu gelten, bis in einem allgemeinen gesetzlich bestimmten Verfahren rechtskräftig seine Schuld festgestellt wurde.
Diese Unschuldsvermutung ist eines der Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens und wird heute von den meisten Ländern der Welt, darunter auch Deutschland, anerkannt. Sie findet sich bereits in Artikel 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die Europäische Menschenrechtskonvention setzt dies in ihrem Artikel 6 völkerrechtlich verbindlich um. Im deutschen Recht ergibt sich die Unschuldsvermutung aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG).
Die Unschuldsvermutung erfordert, daß jeder einer Straftat Verdächtigte oder Beschuldigte während der gesamten Dauer des Strafverfahrens als unschuldig behandelt wird und nicht er seine Unschuld, sondern die Strafverfolgungsbehörde seine Schuld beweisen muss. Sie endet nicht bereits mit einer Verurteilung eines Angeklagten, sondern erst mit der Rechtskraft dieser Verurteilung. Bilal G. gilt daher als unschuldig.
Da Bilal G. kein „verurteilter IS-Anhänger“ bzw. „verurteilter IS-Mann“ ist, wirken diese durch die Medien verbreiteten Tatsachenbehauptungen auf den durchschnittlichen Leser als ob Bilal G verurteilt worden wäre. Noch dazu wegen etwas, wegen dessen er nicht einmal vor Gericht beschuldigt wird. Da diese unzutreffenden Tatsachenbehauptungen bereits in den Überschriften der Beiträge von Deutscher Presseagentur (dpa), Süddeutscher Zeitung, Hürriyet, Gießener Anzeiger, Der Spiegel, Focus und der Hessenschau des Hessischen Rundfunk verbreitet werden, wird dem durchschnittlichen Leser glaubhaft gemacht, Bilal G. sei ein „verurteilter IS-Anhänger“ bzw. „verurteilter IS-Mann“.
Das sind Fake News, die über jemanden verbreitet werden, der Koranübersetzungen in der Öffentlichkeit verteilte und zur Zielscheibe der Medien wurde. Wenn man die Schlagzeilen über Bilal G. über die letzten Jahre hindurch nachverfolgt, dann steigerten sich negativ konnotierte Frames der Medien für Bilal G. von Jahr zu Jahr: aus einem „Koranverteiler“ wurde ein „Salafist“, aus einem „Salafisten“ wurde ein „Islamist“, aus einem „Islamisten“ wurde ein „verurteilter IS-Anhänger“ und aus einem „verurteilten IS-Anhänger“ wurde ein „verurteilter IS-Mann“.
Was kommt als Nächstes? Und wo bleibt der Protest der Politiker, der Abgeordneten und der Öffentlichkeit gegen die unrechtmäßige Vorverurteilung des Bilal G.?
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